Energiewendemärchen der Woche 01-2022

EU-Taxonomie und der Marsmensch

EU-Taxonomie und der Marsmensch

André D. Thess

06. Januar 2022

Die Behauptung: Kernenergie soll gemäß dem hier verlinkten Dokument in das EU-Taxonomiesystem für nachhaltige Investitionen aufgenommen werden. Der Verein Nuklearia e.V. schreibt dazu auf seiner Webseite: „An den sehr guten CO₂-Werten der Kernenergie beißt die Maus keinen Faden ab, mögen Robert Habeck und die Deutsche Umwelthilfe noch so toben.“ Der Wirtschaftsminister meint hingegen hier, es gehe darum, „einen finanziellen Anlagemarkt zu schaffen und den als grün und nachhaltig zu qualifizieren - und das ist ein Etikettenschwindel".

Meine Analyse: Der Streit um die Aufnahme einzelner Technologien in die EU-Taxonomie geht nach meiner Ansicht am Kern der Sache vorbei. Die Debatte offenbart lediglich ein tieferliegendes Problem – die Überflüssigkeit staatlicher Planwirtschaft und die Schädlichkeit einer ökologischen Zweiklassengesellschaft.

Der Begriff Taxonomie kommt ursprünglich aus der Biologie und bezeichnet die Klassifikation von Lebewesen. Die Unterscheidung zwischen der roten Waldameise und der Weberameise ist weitgehend frei von Willkür und könnte im Prinzip auch von einem Bildverarbeitungsalgorithmus durchgeführt werden. Ich verwende in diesem Zusammenhang gern den Begriff „Marsmenschentest“.  Eine Klassifikationsaufgabe ist objektiv und willkürfrei lösbar, wenn sie von einem Marsmenschen ohne Wissen über die Befindlichkeiten von Erdlingen erfüllt werden kann. Vor diesem Hintergrund erfüllt die Anwendung des Begriffs Taxonomie auf ein so unscharfes Gebiet wie Nachhaltigkeit nach meiner Einschätzung bereits den Tatbestand der Desinformation.

Unterziehen wir nun das wichtigste gültige EU-Taxonomiedokument einem kurzen Marsmenschentest. Schon im Artikel 2 (Begriffsbestimmungen) würde der Marsianer am ersten Unterpunkt scheitern: „Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck … ‚ökologisch nachhaltige Investition‘ eine Investition, in eine oder mehrere Wirtschaftstätigkeiten, die gemäß dieser Verordnung als ökologisch nachhaltig gelten“ Die Nachhaltigkeit ist allerdings nirgends im Dokument explizit und klar definiert.

In Artikel 3 (Kriterien für ökologisch nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten) erfährt der Marsianer „Zum Zwecke der Ermittlung des Grades der ökologischen Nachhaltigkeit einer Investition gilt eine Wirtschaftstätigkeit als ökologisch nachhaltig, wenn diese Wirtschaftstätigkeit: a) gemäß den Artikeln 10 bis 16 einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung eines oder mehrerer der Umweltziele des Artikels 9 leistet.“ Wenn er hernach die Geduld aufbringt, die sechs Seiten (21,419 Zeichen) umfassende Litanei zu studieren, erwarten ihn unscharfe Formulierungen wie etwa: „Eine Wirtschaftstätigkeit leistet einen Beitrag … wenn sie die Entwicklung und Einführung CO2-armer Alternativen nicht behindert.“ Wie soll so etwas willkürfrei evaluiert werden?

Zusammenfassend käme der Marsmensch zu dem Schluss, dass das EU-Taxonomiesystem so viele Einfallstore für Willkür bietet, dass er die Klassifikationsaufgabe nicht erfüllen kann.

Mein Fazit: Die EU-Taxonomie ist ein Paradebeispiel für ausufernde Bürokratie und staatliche Planwirtschaft. Wenn solche Systeme der Schlüssel zu wirtschaftlichem Erfolg wären, dann hätte die DDR mit ihrer staatlichen Plankommission das wirtschaftlich erfolgreichste Land der Welt sein müssen. Nur eine sofortige, vollständige und ersatzlose Abschaffung der EU-Taxonomie wäre nach meiner Überzeugung mit den europäischen Werten Freiheit und Eigenverantwortung vereinbar.

 

Der Autor: André D. Thess ist Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und Autor des Buches „Sieben Energiewendemärchen?“ Kontakt: energiewendemaerchen@t-online.de

 

Zum Seitenanfang