Energiewendemärchen der Woche 13-2022

Argumentationsversagen im Hause VDI

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Argumentationsversagen im Hause VDI

André D. Thess

31. März 2022

Die Behauptung: Der Verein Deutscher Ingenieure VDI zitiert in einer Pressemitteilung vom 4. März 2022 unter der Überschrift „Kernkraftwerke – Laufzeitverlängerung nicht einfach und schnell umsetzbar“ die Einschätzung des Vorsitzenden der VDI-Gesellschaft Energie und Umwelt Dr. Jochen Lambauer: „Aufgrund der aktuellen geopolitischen Lage ist die Versorgungssicherheit auf einer kurzfristigen Zeitschiene bis nächsten Winter mit Hilfe von Alternativen zu russischen Energieimporten zu gewährleisten. Die Laufzeitverlängerung der deutschen KKW ist dafür keine Option.“

Meine Analyse: Der VDI-Beitrag nennt in seinem Schriftstück vier Gründe für seine Einschätzung: (1) Beschaffungsprobleme neuer Brennelemente, (2) Vorruhestand von Kraftwerkspersonal ab Laufzeitende, (3) fehlende Anlagenrevisionspläne, (4) fehlende Lieferantenkapazitäten. Der VDI-Beitrag beschreibt keine Alternativen und führt folglich auch keine vergleichende Betrachtung durch.

Es handelt sich bei dem vorliegenden Dokument des VDI insofern um einen bemerkenswerten Fall von Argumentationsversagen, als der unwissenschaftliche Charakter dieses Papiers nachgewiesen werden kann, ohne sich auf die Sachebene begeben zu müssen.

Dem einstmals für seine Seriosität geschätzten VDI ist anscheinend das Wissen abhandengekommen, wie ein sachlicher technischer Variantenvergleich aufzubauen ist. Im ersten Schritt eines solchen Vergleichs steht eine kurze Auflistung der unterschiedlichen Handlungsoptionen mit ihren technischen und ökonomischen Merkmalen. Im zweiten Schritt des Vergleichs werden die Varianten – von denen der Weiterbetrieb der Kernkraftwerke eine, aber nicht die einzige Variante sein kann – mit ihren Vor- und Nachteilen gegenübergestellt. Im dritten Schritt werden die Vergleichsmerkmale priorisiert. So kann beispielsweise dem Kriterium „Schnelligkeit“ eine höhere und dem Kriterium „Kosten“ eine niedrigere Priorität eingeräumt werden – oder umgekehrt. Im Ergebnis entsteht eine nachvollziehbare Begründung einer aufgestellten These. Die Darstellung dieser drei Schritte muss keineswegs lang sein und kann durchaus das Format eines „Onepagers“ haben.

Das vorliegende Dokument enthält allerdings keines dieser drei Elemente.

Mein Fazit: Die Einschätzung des VDI über die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken entbehrt – unabhängig von inhaltlichen Fragen – jeglicher methodischen Sorgfalt und sollte von der Öffentlichkeit deshalb ignoriert werden. Der einzige Wert des Dokuments besteht darin, in Zukunft für meine Studenten und Doktoranden als Anschauungsbeispiel für unsachgemäße technische Argumentation zu dienen.

 

Der Autor: André D. Thess ist Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und Autor des Buches „Sieben Energiewendemärchen?“ Kontakt: energiewendemaerchen@t-online.de

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