Energiewendemärchen der Woche 50-2021

Ausgerechnet!

Ausgerechnet!

André D. Thess

16. Dezember 2021

Die Behauptung: Eine deutsche Politikerin aus dem Völkerrecht hat ihre Überzeugungen zur Speicherfähigkeit des Stromnetzes seinerzeit mit den Worten ergänzt: „Das ist alles ausgerechnet.“ Auch außerhalb des Völkerrechts verweisen Politiker gern auf Simulationen, Computermodelle und Studien, in denen etwa die Möglichkeit und die Kosten einer hundertprozentigen Versorgung Deutschlands mit erneuerbaren Energien „ausgerechnet“ werden.

Meine Analyse: Für das Verständnis der Belastbarkeit von Rechenergebnissen ist die Erkenntnis wichtig, dass nicht jede fehlerfreie Rechnung praktischen Nutzen besitzt. Auch wenn sie eindrucksvolle Namen wie „Szenario“ trägt. Dazu ein Beispiel aus der bunten Szenarienwelt.

Am 1. Juni 2021 hatte ich auf Twitter 30 Follower. 193 Tage später, am 11. Dezember, waren es 300. Unter der Annahme eines exponentiellen Wachstums meiner Followergemeinde lässt sich aus diesen beiden Datenpunkten die Formel N = 30*exp[0,0119*t] ableiten. Hier bezeichnen N die Zahl der Follower, t die Zahl der Tage seit dem 1. Juni 2021 und exp die Exponentialfunktion.  Durch Umstellen dieser Formel nach t lässt sich berechnen, an welchem Tag ich eine bestimmte Followerzahl erreiche.

Dem Ökonomen Hans-Werner Sinn folgen 30.000 Twitterer. Aus der obigen Formel ergibt sich, dass ich Herrn Kollegen Sinn am Montag dem 2. Januar 2023 überholen werde. Weiterhin habe ich „ausgerechnet“, dass ich am Sonnabend dem 13. Juli 2024 an der Rapperin Nicki Minaj mit ihren 23 Millionen Followern vorbeiziehe. Den Unternehmer Elon Musk mit seinen 66 Millionen Followern werde ich am Mittwoch dem 9. September 2024 hinter mir lassen. Ein ganz besonderer Feiertag steht am 14. November 2025 ins Haus. An diesem Tag werden mir alle 7,8 Milliarden Bewohner unserer Erde als Twitter-Follower zu Füßen liegen. Das ist alles ausgerechnet!

Spätestens hier dürfte klar werden, dass diese Rechnung purer Unsinn ist, obwohl sie keine Rechenfehler enthält. Das Beispiel verdeutlicht drei beliebte Taschenspielertricks. Erstens werden fundamentale Annahmen – wie das exponentielle Wachstum meiner Followerzahl – beiläufig eingeschmuggelt, obwohl sie keine Berechtigung besitzen. Zweitens wird der Unterschied zwischen einem Szenario (= mögliche Entwicklung, die mit physikalischen und ökonomischen Grundgesetzen nicht in Widerspruch steht) und einer Vorhersage (= mit bestimmten Garantien versehener Ausblick) in Studien gern unter den Teppich gekehrt oder allenfalls im Kleingedruckten erwähnt. Drittens wird durch Angaben mit astronomischer Genauigkeit wie „Mittwoch, 09.09.24“ der Eindruck hoher Wissenschaftlichkeit erweckt, obwohl das Gegenteil der Fall ist.

Mein Fazit: Hände weg von Simulationsstudien und Rechnungen, deren Voraussetzungen nicht ausführlich dokumentiert sind, bei denen nicht zwischen „Szenario“ und „Vorhersage“ differenziert wird und bei denen Zahlwerte mit mehr als drei gültigen Dezimalstellen angegeben werden.


Der Autor: André D. Thess ist Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und Autor des Buches „Sieben Energiewendemärchen?“ Kontakt: energiewendemaerchen@t-online.de

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