Energiewendemärchen der Woche 28-2021

Tempolimit 130: Argumentation und Propaganda

Tempolimit 130: Der feine Unterschied zwischen Argumentation und Propaganda

André D. Thess

  1. Juli 2021

 

Die Behauptungen: Das ökologisch-soziale (ÖS) Lager sagt: „Wir brauchen ein Tempolimit 130 auf Autobahnen. Das spart 1,9 Millionen Tonnen CO2, verringert Lärm und rettet Leben!“ Das liberal-konservative (LK) Lager sagt: „Freie Fahrt für freie Bürger! Unsinnige Debatte. Basta!“

Meine Analyse: Argumentation bedeutet: Ich lege alle Fakten auf den Tisch. Dann verkünde ich, welcher Fakt nach meiner Meinung der Wichtigste ist. Propaganda bedeutet: Ich lege nur die passenden Fakten auf den Tisch. Dann verkünde ich meine Meinung mit dem Gestus moralischer Überlegenheit. Die deutsche Tempolimit-Debatte ist das Paradebeispiel für Propaganda. Schauen wir auf die Fakten:

Der Spritverbrauch von Autos steigt oberhalb 100 km/h mit wachsender Geschwindigkeit an – und damit auch der CO2-Ausstoß pro Kilometer. Für jeden Fachmann in Sachen Thermodynamik und Strömungsmechanik ist dies so sicher wie das Amen in der Kirche. Mit diesem Fakt steht das ÖS-Lager fest auf dem Boden der Energieforschung.

Das Tempolimit ist ein Verbot und somit ein staatlicher Eingriff in die Freiheit der Bürger. Ein einzelnes Verbot macht aus einer Demokratie noch keine Diktatur. Doch jedes Verbot erzeugt Unfreiheit. Deshalb sollte die Verbotsdichte in einer Demokratie sorgfältig ausgehandelt werden. Mit diesem Fakt dürfte das LK-Lager fest auf dem Boden der Politikwissenschaft stehen.

Wenn das ÖS-Lager den Freiheitseingriff unter den Teppich kehrt oder kleinredet und das LK-Lager die CO2-Einsparung verschweigt oder geringschätzt, betreiben beide Seiten Propaganda statt Argumentation. Glaubhafter wären die ehrlichen Worte: „Für uns ‚ÖSis‘ ist CO2-Einsparung wichtiger als Freiheit“ und „Für uns ‚LiKos‘ ist Freiheit wichtiger als CO2-Einsparung.“ Jede dieser Meinungen ist in einer Demokratie legitim.

Einen Mittelweg zwischen den Extremszenarien „Klimarettung in Diktatur“ und „Untergang in Freiheit“ scheint es nicht zu geben. Doch wie wäre es mit der Idee, drei Verbote abzuschaffen, bevor man ein neues Verbot einführt? Dann könnten wir Klimaschutz und Freiheit versöhnen.

Mein Fazit: Wenn wir Glühbirnenverbot, Zweitausendwattstaubsaugerverbot und Kernenergieverbot abschaffen, werde ich mit Freude für Tempolimit 130 stimmen!

 

Der Autor: André D. Thess ist Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und Autor des Buches „Sieben Energiewendemärchen?“ Kontakt: energiewendemaerchen@t-online.de

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